Zettelkasten

Die Eisbergtheorie der Zettelkastenmethode — In die Tiefe Wollen Wir

Die Zettelkastenmethode ist nicht nur eine Methode der Wissensarbeit. Sie ist auch ein Diagnosewerkzeug.

Um das zu demonstrieren, will ich mit einer kleinen Geschichte aus meiner Arbeit als Trainer für Gesundheit und Fitness einleiten:

Eine Klientin kontaktierte mich, weil sie abnehmen wollte. Wir haben die Rahmenbedingungen besprochen und ich habe ihr die ersten Schritte zugesendet. Einen Monat später meldete sie mir Misserfolg. Sie konnte das Programm nicht umsetzen, dass wir gemeinsam besprochen hatten. Wir haben das Programm reduziert, weil meine Klientin gesagt hat, dass sie es aufgrund von Zeit und Stress nicht umsetzen konnte, wie sie es sich vorgenommen hat. Nächsten Monat wiederholte sich das Muster. Also haben wir genauer nach den Ursachen gesucht. Dabei kam ein überraschendes Problem zutage:

Sie beschwerte sich darüber, dass ihr Mann sie nicht ausreichend unterstützen würde. Doch in Wirklichkeit hat sie selbstständig ihr Training ausfallen lassen, um es ihrem Mann recht zu machen. Oder anders: Sie selbst hat die Vereinbarungen über den Haufen geworfen. Sie hat deutlich ausgelebt, dass ihr eigenes Training und ihr Wunsch abzunehmen nicht wichtig genug ist, um als Teil des gemeinsamen Familienlebens berücksichtigt zu werden.

Ihre Schwierigkeiten abzunehmen entstanden nicht durch einen Mangel an Disziplin oder Zeit. Sie entstanden dadurch, dass sie selbst einmal getroffene Vereinbarungen nicht ernst genommen hat. Als wir darüber gesprochen haben, hat sie einerseits das Problem verstanden und stimmte meiner Einschätzung zu. Doch sie blieb bei ihren probe-verursachenden Überzeugungen. Was ich als Wankelmut und fehlerhafte Problemlösungsstrategie identifizierte, hat sie als Flexibilität bezeichnet und hat darauf bestanden, dass jede Situation einzigartige Einzelfälle sind. Natürlich hat sie in den darauffolgenden Treffen für jede Verletzung der Vereinbarung zwischen ihr und ihrem Mann, aber auch zwischen ihr und mir, einen “guten Grund” gehabt. Aber all diese Gründe waren nur oberflächliche Symptome eines tieferliegenden Problems.

Der für den Zettelkasteneisberg relevante Punkt ist, dass mehr unter der Oberfläche verborgen ist, als man gewöhnlich vermutet. Die eigentliche Ursache für die Abnehmprobleme meiner Klientin lagen in ihren fehlerhaften Überzeugungen, wie man Konflikte in der Partnerschaft und allgemein löst. Um erfolgreich abzunehmen, musste sich meine Klientin mit der Tiefenstruktur ihres Lebens auseinandersetzen.

Schraubten wir nur an oberflächlichen Aspekten wie dem Trainingsplan oder an Organisationstechniken wie wöchentlichen Reviews herum, würde sie nicht nur stärker frustrieren, sondern die Schuld bei ihrem Partner suchen und auch bei sich selbst.

Das Grundmuster beobachte ich ebenso beim Erlernen der Zettelkastenmethode. Die Hoffnung vieler Menschen ist, dass sie mit der Zettelkastenmethode Probleme lösen, deren Ursache tiefer liegt.

Ich habe daher die Zettelkastenmethode vielfältig angereichert. Sie reicht von der Oberfläche bis in große Tiefen der Wissensarbeit. Lass uns nun die Tiefen des Zettelkasteneisbergs ein wenig genauer studieren:

Linked Note-Taking und PKM

An der Spitze stehen die Mainstream-Vertreter der neuen Welle der Notizen und des PKMs (“Personal Knowledge Management”). Linked Note-Taking (“Verknüpfe Notizen”) spricht ein grundlegendes Problem an, das wir lösen müssen, wenn wir ein System für uns aufbauen wollen, anstatt projektbezogene Teilsysteme wie etwa einen Ordner anzulegen. Das ist der Paradigmenwechsel, den ich mit der neuen Welle identifiziere.

Hier finden wir allerlei Workflows und Überlegungen. Leider bleiben sie meistens so oberflächlich, dass sie teilweise irreführen. Ein Phänomen dieser Ebene ist der Evernote-Effekt.

Der Evernote-Effekt ist ein Begriff, der das Ergebnis der Nutzung eines Systems ohne Berücksichtigung der Auswirkungen der Skalierung beschreibt. Das prominenteste Beispiel ist die Erkenntnis intensiver Nutzer der App Evernote, dass die Eingabe von Notizen (meist in Form von “Captures”) Unordnung erzeugt. Diese muss durch Wartung eingedämmt werden. Je mehr man einpflegt, desto mehr Energie und Zeit muss man in die Wartung stecken. Irgendwann ist ein Punkt erreicht, in dem die Wartungsaufwand nicht mehr durch einen entsprechenden Ertrag gerechtfertigt ist.

Building a Second Brain (BASB) von Tiago Forte hat genau dieses Problem erkannt. Einer der Hauptschlüsse des Buches ist: Wenn das System dich kognitiv entlasten soll, darf es selbst nicht aufwändig zu bedienen sein.

Das ist genau der richtige Schluss, wenn wir die Probleme der Oberflächenschicht lösen wollen. Daher ist jeder der vier Schritte im Arbeitsablauf CODE auf die Vermeidung von Aufwand ausgerichtet. Das erhöht die Effizienz:

Capture (Einfangen) umfasst alles, womit du deine Inboxen füllst. Die Empfehlung ist dies mit möglichst wenig Aufwand und durch Unterstützung von Apps wie Readwise auszuführen.

Organise (Einordnen) sollte ebenfalls schnell geschehen. Wenngleich Forte ein cleveres Ordnersystem anbietet (das ich übrigens selbst zur Quellenverwaltung nutze!), betont Forte immer wieder, dass die genaue Ordnung nur in Bezug auf die aktuellen Projekte ausschlaggebend ist. Man solle also nicht in zu intensive Ordnungssucht verfallen.

Distill (Konzentrieren) ist eine Methode, wie man den Text durch Markierungen für spätere Verarbeitung aufbereitet. Hier lasse ich Forte selbst zu Wort kommen:

Machen Sie sich nicht die Mühe, jeden Punkt zu analysieren, zu interpretieren oder zu kategorisieren, um zu entscheiden, ob er hervorgehoben werden soll. Das ist viel zu anstrengend und unterbricht das Fließen Ihrer Konzentration. Verlassen Sie sich stattdessen auf Ihre Intuition, wann eine Passage interessant, kontraintuitiv oder relevant für Ihre Lieblingsprobleme oder Ihr aktuelles Projekt ist. [^forte2022-14Z0] (Meine Übersetzung und Hervorhebungen)

Express Forte empfiehlt Projekte in kleine, leicht abzuarbeitende Schritte aufzuteilen.1 Das ist ein klassischer Ratschlag, nämlich große Ziele in kleinere Meilensteine aufzuteilen und diese Aufteilung so zu gestalten, dass jeder Meilenstein zu einer überschaubaren Aufgabe wird, sodass man nicht zögert diese in Angriff zu nehmen.

Für oberflächliche Probleme, wie Artikel wiederfinden oder für ein Projekt relevante Artikel in einen Ordner ablegen, ist BASB hervorragend. Daher benutze ich es selbst als dem Zettelkasten vorgelagertes System des Informationsmanagements.

Es ist auf jeden Fall ein großer Schritt in die richtige Richtung.

Erinnern wir uns an die Geschichte meiner Klientin: Probleme können tieferliegende Ursachen haben. Wollen wir diese Probleme lösen, müssen wir uns auf die Suche nach diesen tieferliegenden Ursachen machen.

Der Zettelkasten zielt auf die tiefe Schicht ab, doch zumeist wird der Zettelkasten missverstanden.

Zettelkasten – Ohne Methode, aber mit Flow

Wenn es eine Frage gibt, wie der Zettelkasten funktioniert, dann ist die Frage nach dem Workflow die uninteressanteste. Die ersten Jahre habe ich beispielsweise meinen Zettelkasten aufgebaut, ohne mir auch nur einmal die Frage nach dem Workflow zu stellen.

Auch später habe ich den Workflow lediglich als Zweischrittzyklus angelegt:

1. Schritt: Sammeln
2. Schritt: Verarbeiten

Mit dem Erfolg von Sönke Ahrens’ Buch “Das Zettelkasten-Prinzip” erfolgte eine Welle der Fixierung auf den Workflow. Diesem Phänomen, den Zettelkasten als einen Workflow zu verstehen, liegt meiner Meinung nach der Versuch zugrunde, die guten Lösungen der Oberfläche auf die Tiefenschicht anzuwenden.

Gehen wir zurück zu meiner Klientin, um zu verstehen, welche Probleme geschehen, wenn man tiefschichtige Probleme mit Oberflächenmethoden versucht zu lösen: Meine Klientin war kein triviales System, dass auf einen bestimmten Input (Plan) mit einem bestimmten Output (Abnehmen) reagiert. Sie ist ein Mensch mit einem komplexen Innenleben. Ohne die Berücksichtigung ihres Seelenlebens kann der Plan nicht wirken.

Der Zettelkasten verspricht zur persönlichen Denkmaschine zu werden; ich bevorzuge den Begriff “Denkumgebung”. Dabei haben wir einen Zettelkasten für uns, nicht viele Zettelkästen für unsere Projekte. Wir müssen uns auf eine ganz andere Weise mit dem Problem der Skalierung befassen. Einige Beispiele:

  1. Spezifizität: wenn wir eine Notiz anfertigen und sie Teil eines Systems für uns und nicht nur für ein konkretes Projekt sein soll, müssen wir sie auf eine Weise anfertigen, die sie Projekt-unabhängig wertvoll macht.
  2. Zeit: wenn wir jetzt eine Notiz anfertigen, die uns noch in 5 oder 10 Jahren nützt, müssen wir sie auf eine Weise anfertigen, dass sie unabhängig von unserer jetzigen Situation nützlich ist. Schließlich sind wir in Zukunft ein anderer Mensch mit anderen Prioritäten.
  3. Größe: wenn unsere Notizen Teil eines einzigen Systems werden sollen, müssen wir mit ganz anderen Größenordnungen umgehen lernen. Der Zettelkasten muss mit mehreren zehntausend Notizen problemlos zu bedienen sein.
  4. Komplexität: beginnen wir Notizen untereinander zu verknüpfen, werden wir mit einer erheblich größeren Komplexität konfrontiert als bei üblichen Notizsystemen.

Das erfordert eine ganz andere Herangehensweise als die Verwaltung von Quellen oder die Schaffung eines Workflows.

Die Zettelkastenmethode

Um unseren Zettelkasten zu aktivieren, müssen wir uns einer ganzen Reihe von Problemen stellen, die wir vorher nicht hatten. Und hier stecken die meisten Menschen fest.

Ebenso wie ein neuer Trainingsplan nicht die Lösung für die Abnehmwünsche meiner Klientin war, sind bessere Verwaltungsmethoden (“Wissensmanagement”) oder ein anderer Workflow, nicht die Lösung dafür, ein lebenslanges System, einen Zettelkasten aufzubauen.

Ich erinnere an den Evernote-Effekt. Es gibt das Problem der Skalierung. Die Arbeitsweise, die uns kurz- oder mittelfristig nützt (z.B. für Projekte), ist langfristig ungeeignet. Notizen, die wir jetzt schreiben, müssen ohne ihren aktuellen Kontext in 5–10 Jahren verstehbar und nützlich sein. Der Zettelkasten muss mit Unmengen von Einzelnotizen problemlos bedienbar sein und man muss sich, unterstützt durch Methoden und Techniken, in einer enorm hohen Komplexität zurechtfinden.

Dabei muss sich jede Interaktion mit dem Zettelkasten einem ähnlichen Problem stellen wie Betreibern von Internetseiten. Nutzer sind nicht bereit auf Seiten zu verweilen, die langsam laden. Ich glaube nicht, dass die Ursache die gesunkene Aufmerksamkeitsspanne von uns Menschen, sondern die veränderte Erwartung ist. Man könnte eher sagen, dass wir nun erwarten, dass das Internet genauso flüssig reagiert wie Computerprogramme oder die Welt (ja, die echte Welt hat keine Ladezeiten). Wenn ich meinen Zettelkasten bediene, frage ich mehrere Suchergebnisse in wenigen Sekunden an. Ich folge in kurzer Zeitfolge, manchmal mehr als einmal pro Sekunde Links, nur um wieder an den Anfangspunkt zurückzukehren. Dabei darf es keine Verzögerungen geben. Nach dem Vorbild Notational Velocitys haben wir großen Wert auf die Schnelligkeit von The Archive gelegt. Weil wir es uns zur Regel gemacht haben, uns nicht negativ über andere Apps zu äußern, nenne ich keine Namen: Öffne ich meinen Zettelkasten mit anderen, teilweise sehr beliebten Anwendungen, ruckelt es ordentlich. Die Apps sind mit einem Zettelkasten wie meinem überfordert.

Weder Verwaltungsmethoden noch ein guter Workflow können die Herausforderungen auf dieser Ebene lösen. Aus genau diesem Grund befasse ich mich eben mit dem Akt der wissensbasierten Wertschöpfung selbst (hier und hier) oder wie empirische Arbeit in Zettelkastenstrukturen aufgebaut werden kann.

Der Grundlagenkurs liefert natürlich konkrete Techniken und Methoden (z.B. wie man Titel oder Schlagworte vergibt und Strukturzettel anlegt). Aber sie sind Lösungen für Probleme der Tiefenstruktur. Denn diese gilt es zu lösen, wenn man mehr haben will, als nur eine Ablage.

Luhmann selbst hat eine Systemtheorie der Zettelkastenmethode entworfen und diese verfolgt. Auch Luhmann hat sich um Skalierung und die Funktionsweise seines Zettelkastens als ein vollständiges Ganzes gekümmert. Wer sich ein wenig mit seiner Systemtheorie auseinandergesetzt hat, sieht überall die entscheidenden Begriffe in seinem Artikel. Seinen Artikel wirklich zu verstehen, setzt voraus, dass man Luhmanns Denken versteht. Wenn Luhmann Begriffe wie “Anschluss” oder “Kommunikation” benutzt, muss man diese Begriffe als systemtheoretische Begriffe identifizieren und entsprechend einordnen können.

Will man einen Zettelkasten aufbauen und die zettelkastenartige Magie2 entfalten, muss man in diese Tiefe vordringen und beginnen die eigentlichen Probleme zu verstehen.

Ich will dir ein Beispiel dafür nennen, warum die Tiefenebene so wichtig ist:

Wenn wir ein universelles System aufbauen wollen und uns von projektbezogenen Methoden lösen wollen, müssen wir die einzelne Notiz auf eine Weise schreiben, dass sie dem System nützt. Das erfordert eine andere Weise des Notizenschreibens.

Luhmann hat diese Frage rein funktional beantwortet: Jeder Zettel braucht mindestens eine Verknüpfung. Dafür durchsucht man den Zettelkasten mithilfe der bereits vorhandenen Verknüpfungen. Die daraus entstehende Paradoxie (Verknüpfungen werden durch Verknüpfungen möglich) löst er durch Zeit auf: Anfangs füllt man hauptsächlich den Zettelkasten, bis er eine kritische Masse erreicht hat, die ihn aktiviert.

Doch wir wollen uns als Zwerge auf die Riesenschultern des Luhmann stellen: Wie schreiben wir einen Zettel, dass er einen möglichst großen Nutzen für den Zettelkasten hat, sodass unser Zettelkasten zur für uns bestmöglichen Denkumgebung wird?

Meine Lösung ist den Wert des einzelnen Gedankens nicht mehr auf das Projekt zu beziehen. Schreibe ich einen Zettel, frage ich mich nicht mehr zuerst, wie er ein bestimmtes Projekt weiterbringt, sondern frage mich, wie ich den Gedanken auf ihm so verarbeiten kann, dass ich ihn Projekt-unabhängig mit Werten anreichern kann oder ob er selbst einen Wert enthält, der andere Gedanken anreichern kann.

Mein Modell der wertgebenden Eigenschaften (Wahrheit, Relevanz, Nützlichkeit, Schönheit, Einfachheit) von Wissen dient dabei als Vorlage für die wissensbasierte Wertschöpfung.

Solche Modelle haben ihre Ursprünge in der tiefsten Schicht des Zettelkasteneisbergs: den Denkwerkzeugen.

Denkwerkzeuge

In der tiefsten Schicht befinden sich die Denkwerkzeuge. Die Wichtigkeit dieser Tiefenschicht wird nicht nur weitgehend ignoriert. Sie ist gleichzeitig von ganz besonderer Wichtigkeit für die Qualität der Zettel, die du schreibst und schreiben kannst. Dadurch ist sie eine der häufigsten Fehlerquellen beim Aufbau eines Zettelkastens. Doch die Fertigkeiten, um die es geht, betreffen nicht etwa die Formalitäten der Zettelkastenmethode. Sie sind die Voraussetzungen, Gedanken klar zu fassen und Denkarbeit souverän zu absolvieren. Daher ist es essenziell, dass du dich mit dieser Tiefenschicht beschäftigst. Nicht nur, um einen Zettelkasten aufzubauen, sondern vielmehr, weil sich hier die Güte deines Denkens bestimmt.

Kurz: Deine Denkwerkzeuge bestimmen die Qualität deiner Zettel und damit auch deines Zettelkastens.

Denkwerkzeuge sind Werkzeuge für das Denken an und für sich. Ich will dies an zwei meiner Zettel aus meinem Zettelkasten veranschaulichen:

# 201705061036 Das Modellierte erbt die Eigenschaften des Modells
#Modelltheorie #Vererbung #Eigenschaft

Wenn wir etwas modellieren, erbt das Modellierte nicht nur die gewünschte Eigenschaft des Modells. Es erbt alle Eigenschaften. 

Das ist sowohl Chance als auch Risiko zugleich:

1. Es ist die Chance auf Erkenntnisgewinn, denn beim Modellieren können wir auf Erbschaften von Eigenschaften aufmerksam werden, an die wir vorher nicht gedacht haben.
2. Es ist ein Risiko dafür, dem Modellierten Eigenschaften zuzuschreiben, die in der Realität nicht vorliegen.

Dieser Artikel nutzt das Eisbergmodell. Es gehört zum Inventar meiner Denkwerkzeuge. Das Eisbergmodell hat bestimmte Eigenschaften. Eine von ihnen ist die Eigenschaft des Schwimmens, die durch die Auftriebskraft des unter dem Wasser liegenden Eis bedingt wird. Dies habe ich mir zunutze gemacht, um auf eine Beziehung zwischen den einzelnen Komponenten des PARA-Modells (eine Methode der Ablage) von Tiago Forte zu schließen. Das Modell hat mir geholfen, auf diese Eigenschaft zu kommen, doch gleichzeitig musste ich das Risiko bedenken, dass mir das Modell Eigenschaften vorgaukelt, die so nicht im Modellierten (hier: PARA) vorkommen.

Dies ist einer der wichtigen Denkschritte, die man gehen muss, um sauber zu denken: Man muss immer prüfen, ob die durch die Modellierung vererbten Eigenschaften im eigentlichen Objekt des Erkenntnisinteresses nachweisbar sind.

Der obige Zettel ist Teil meiner selbst erarbeiteten Gebrauchsanleitung für meinen Denkwerkzeugkasten. Hier ist es ein Warnhinweis, ähnlich wie der Warnhinweis auf einer Kreissäge, dass man sie niemals an den Strom angeschlossen ablegen sollte.

In nachfolgendem Zettel habe ich ein anderes Denkwerkzeug angewendet:

# 202311180746 Akrasia-Enkrateia - Selbstkontrolle als Teil von Conditio Humana
#Akrasia #ConditioHumana #Selbstkontrolle

**Als Menschen sind wir mit der beständigen Verhandlung zwischen Impulsen und rationaler Entscheidung konfrontiert. Diese Aushandlung vollziehen wir mal erfolgreich und mal vergeblich. Weil diese Aushandlung durch unser Bewusstsein bedingt ist, ist die Frage, wie wir diese Aushandlung erfolgreich gestalten, Teil der Conditio Humana.**

Akrasia und Enkrateia bezeichnen Beziehung innerhalb unseres Charakters von unserem Willen und unseren Impulsen:[[202311250926]]

A Akrasia ist der Zustand, in dem unser Wille unseren Impulsen untergeordnet ist. 
B Enkrateia ist der Zustand, in dem unser Wille unseren Impulsen übergeordnet ist.

(1) Conditio Humana basiert auf der Sonderstellung des Menschen in Folge seines Bewusstseins.[[202311240824]]
(2) Das Bewusstsein führt dazu, dass es möglich ist, das Richtige erkannt zu haben, dennoch nach dem Falschen zu handeln. 
    (2.1) Die Rationale (rationalistische?) Annahme ist, dass Einsicht eine Handlungsgarantie ist. Sie wird enttäuscht.
(3) Während Tiere ihren Impulsen folgen, ohne miterleben zu können, dass das, was sie machen, falsch ist, folgen wir Menschen manchmal Impulsen im Bewusstsein dessen, dass dies zu kurzfristiger Lust mit langfristigem Nettoverlust für unser Leben führt.
(4) Wir beobachten an uns und anderen Menschen, dass 
	(4.1) Wir uns in einigen Momenten gut und in anderen Momenten schlecht entscheiden.
	(4.2) Dass es einige Menschen gibt, die sich prinzipiell gut entscheiden, und andere, die sich prinzipiell schlecht entscheiden.
(5) Daraus ergibt sich die uns Menschen *als Menschen* gestellte Frage, wie wir die Eigenschaft ausbilden, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, und vermeiden, nicht nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. 

Für die analytischen Philosophen sind die Nummerierungen bekanntes Gebiet. Das obige ist ein Argument, zumindest der Entwurf eines Arguments für das ich noch keine endgültige Formalisierung vorgenommen habe. Ich könnte beispielsweise nicht sagen, dass es ein Modus Ponens oder Modus ponendo Tollens ist.

Aber diese Nummerierung gibt mir mehr kognitive Kontrolle über die Teilsätze. Wenn ich den Zettel ansehe, erkenne ich sofort an der Form, dass es sich um ein Argument handelt. Ich weiß sofort, dass ich bei der Verwendung des Zettels auf die formale Korrektheit achten muss, oder auch, dass ich auf meine Prämissen (Grundannahmen) achten muss, damit das Argument nicht nur gültig (logisch korrekt), sondern auch schlüssig ist (ich auch auf die Wahrheit der Konklusion bauen kann). Argumente sind Konstrukte, um die Wahrheit einiger Aussagen (die Grundannahmen) auf eine andere (die Schlussfolgerung) zu übertragen. Ich muss also auf die Wahrheit der Grundannahmen achten (durch weitere Argumente und empirische Nachweise) und darauf, dass die Wahrheitsübertragung korrekt abläuft.

In meinem Zettelkasten äußert sich dies durch eine bestimmte Verweisungsstruktur. Das Argument stellt ganz bestimmte Anschlussstellen für andere Zettel her. Besonders anspruchsvolle Grundannahmen brauchen beispielsweise ausführliche Rechtfertigungen. Diese müssen auf einem anderen Zettel oder gar mehreren Zetteln dargelegt werden. Der Grund ist nicht etwa das blinde Befolgen von Atomizität. Vielmehr geht es mir um die Fähigkeit, auf einzelne Bestandteile des Arguments verweisen zu können, um Übersicht, um die Wiederverwertbarkeit und viele andere Eigenschaften, die durch die Zettelkastenmethode als teilweise notwendig und teilweise nützlich hergeleitet wurden. Es ist also nicht so, dass Atomizität eine Regel ist, die man aus Prinzip befolgt. Vielmehr ist Atomizität ein Prinzip, dass man aus guten Gründen befolgt.

Die Meisten, die sich für den Zettelkasten interessieren, haben bereits eine ganze Reihe von Denkwerkzeugen, sind sich aber dessen nicht bewusst. Einer meiner Klienten ist beispielsweise Ingenieur, der sich mit christlicher Lebensberatung befasst und dafür eine Ausbildung macht. Sein Modell von Gottes Willen war in meinen Augen ein kognitiver Schmaus: klar, einfach und von hervorragender Erklärungskraft. Es fehlte nur noch ein paar kleine Kenntnisse aus der Zettelkastenmethode, um den Zettel so zu gestalten, dass klar war, an welcher Stelle Verweise sich anbieten würden.

Die meisten haben Denkwerkzeuge, die sie sich innerhalb ihrer Domäne erarbeitet haben. Diese müssen nur noch in den Zettelkasten übertragen und mit der Zettelkastenmethode in Einklang gebracht werden.

Dies ist einer der anspruchsvollen Projekte für mich im Rahmen der Zettelkastenmethode: Ich arbeite daran, einen allgemeinen Werkzeugkasten und eine dazugehörige Ausbildung zu erarbeiten. Der erste Schritt wird ein Kurs die Entfaltung eines Gedankens werden.

Nicht zurück zu den Basics, in die Tiefe müssen wir gehen

Warum reicht es nicht, einfach Luhmanns Methode zu kopieren? Dafür gibt es einige Gründe:

  1. Nur wenige Menschen sind Luhmann. Luhmann war ein Workaholic, besessen von seinem Ziel, eine Supertheorie der Gesellschaft zu schaffen. Dazu war er ein Mensch, dem Verwaltung im Blut lag (damals hieß dies noch: viel, viel Papierkram). Außerdem verfügte Luhmann über einen gewaltigen Wissensschatz und einen umfangreichen Denkwerkzeugkasten, über den er dank viel Übung und Erfahrung verfügen konnte.
  2. Wer lediglich Luhmann kopiert, verpasst Neuerungen und die Gelegenheit, das weiterzudenken, was Luhmann begonnen hat. Bedenke: Luhmann war der erste, der einen solchen systematischen Zettelkasten erstellt hat.3 Er ist der Pionier und es ist unsere Aufgabe das weiterzuentwickeln, was er erfunden hat.
  3. Die Umgebung ist eine andere. Luhmann musste eine ganze Reihe von Problemen lösen, die wir heute nicht haben. Wie man für genügend Referenzen für Veröffentlichungen sorgt, war damals beispielsweise eine gehörige Herausforderung. Heute hat man sie durch das Internet mit ein paar Klicks zur Verfügung. Dagegen musste er sich nicht mit digitaler Demenz herumschlagen.

Außerdem sind einige Probleme eben keine Oberflächenprobleme. Wollen wir einen Zettelkasten schaffen, der mindestens die Eigenschaften aufweist, die Luhmanns Zettelkasten hat, zum Beispiel eine Art Eigenleben, müssen wir in die Tiefe vordringen. Luhmann selbst hat die ersten Schichten der Tiefe mittels seiner systemtheoretischen Herangehensweise gelöst.

Ist das nicht ein bisschen viel verlangt, mag mancher nun denken. Doch es geht eben nicht anders. Man braucht dieses tiefe Verständnis, damit man seinen Zettelkasten im Geiste dieses Verständnisses bedienen kann, und sich nicht auf unverstandene Formeln wie “Atomizität” verlassen muss. Ansonsten ist man davon abhängig, stumpf das nachzuäffen, was andere vorgeben. Das ist in jedem Lebensbereich so. Wenn man beispielsweise nicht über grundlegende Kenntnisse der Funktionsweise des Körpers verfügt, kann man sein Training und seine Ernährung nicht selbstständig an die Situation oder sich selbst anpassen. Das ist für jemanden nicht so wichtig, der lediglich verglichen mit dem gewöhnlichen modernen Menschen gesund und fit sein möchte. Doch höheren Ansprüchen kann man damit nicht gerecht werden. Ich bin kein Leistungssportler, also brauche ich das nicht, magst du vielleicht einwenden. Dir lege ich die Lektüre von Peter Attias Outlive ans Herz. Die Voraussetzung, ein gesundes Leben im höheren Alter zu führen, ist eine Leistung in jungen Jahren, die heute in die Kategorie “Exzellent” (obere 5%) eingeordnet wird. Ganz konkret: Wenn du mit 70 noch eine längere Wanderung vornehmen willst, die du genießen und nicht lediglich ertragen kannst, musst du in deinen 30ern über enorm viel Ausdauer verfügen. (Es gibt natürlich Hoffnung: Man kann jederzeit mit dem Training anfangen und sich enorm verbessern.)

Der Anspruch an den Zettelkasten ist schließlich nicht, dass du mal eine kleine Hausarbeit schreibst, oder ein oberflächliches Referat für die Schule. Der Zettelkasten soll dir als Denkwerkzeug für Aufgaben dienen, die dich an den Rand deiner geistigen Leistungsfähigkeit bringen. Für einige heißt es, dass sie sich in der Finanzwelt gegen Konkurrenten durchsetzen. Für andere heißt es, dass sie neue wissenschaftliche Kenntnisse erlangen und diese publizieren können. Ob nun Verbesserung von Unternehmensmodellen, tiefes Verständnis von Trainingsmethoden für Fußball, einen Überblick über die Theorie von Programmierarchitektur oder Ähnliches. Wenn du das hier liest, bist du geistiger Hochleister. Behandle dich auch so.

Konsequenzen für die Praxis

  • Arbeite dich von der Spitze des Eisbergs zu allen Tiefen herunter. Die erste Erkenntnis, das verknüpfte Notizen nützlicher sind als unverknüpfte, soll dir der Beginn deiner Reise in die Tiefe sein.
  • Wenn du Schwierigkeiten dabei hast, dein System zum Laufen zu bringen, nutze den Eisberg als Diagnosemittel. Meiner Erfahrung nach stammen viele Probleme aus der Tiefenebene. Vereinfacht gesagt: Wie willst du ein Argument festhalten, wenn du gar nicht weißt, was genau ein Argument ist? Du wärst wie ein Hundefänger, der Katze und Hund nicht voneinander unterscheiden kann.
  • Übe dich in der Formalisierung. Wenn du Argumente verzettelst, formalisiere sie, um es besser zu durchdringen. Wenn du ein Modell verzettelst, durchdenke aktiv, was die Aspekte der Realität sind, die es abbildet, und wie genau das Modell diese Aspekte in eine Beziehung zueinander bringt.
  • Nutze die Fertigkeiten und Werkzeuge, die du schon hast. Wenn du ein Ingenieur bist, bist du bereit ein Experte darin, Probleme darzustellen, Modelle zu verwenden und Kausalketten zu erschließen. Lass diese Fertigkeiten in deinen Zettel scheinen.

Christians Kommentar: Manchmal ist die Arbeit mit dem Zettelkasten ein Zeitfresser, weil in die Tiefe zu gehen immer möglich ist: dann merke ich, es wäre mehr Beschäftigung mit dem Inhalt möglich, den ich verzettle. Aber manchmal entspringt mein Interesse auch nur einem kurzfristigen Bedarf. Beispielsweise bei code snippets, also in sich geschlossenen Lösungen für eine Programmieraufgabe, die ich später wiederverwenden könnte. Dann muss ich mich ehrlich fragen: bin ich nur faul, wenn ich da stoppe, und bürde meinem künftigen Ich durch die Fahrlässigkeit heute auf, Arbeit nachzuholen? Oder ist das Notierte in sich vollständig und schlüssig genug, um dauerhaft von Wert zu sein? Ich könnte jeden Codeschnipsel als Anlass nehmen, die Fundamente der jeweiligen Programmiersprache aufzurollen. Aber wenn ich mich nicht für die Programmiersprache als solche interessiere, gibt es dafür nicht immer einen guten Grund. Aber manchmal eben doch, und das Potenzial erkennen zu üben zahlt sich dann langfristig aus: wo ginge es in die Tiefe, und wann will man dort hinab steigen?

  1. Tiago Forte (2022): Building a Second Brain, Great Britain: Profile Books, S. 151ff. 

  2. Ich erinnere an Thors Erklärung für Magie: “Was für euch Menschen Magie ist, ist für uns Technologie.” (Einer der Marvelfilme) 

  3. Die anderen Zettelkästen sind nicht als System geschaffen worden, sondern als Ablage. Genau dagegen hat sich Luhmann entschieden, weshalb es ein methodischer Fehler ist, Luhmanns Zettelkasten als einen unter vielen zu verstehen. Er hat zweifellos eine Sonderstellung. 


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