Erfahrungsbericht #9: Exzerpt statt Verzetteln
Als ich Transcend von Kaufman1 verzettelt habe, stieß ich auf folgende Probleme:
- Mangelnde Autorität: Das Buch ist für mich kein Buch, dessen Struktur ich folgen will. Es ist für mich nicht als Ganzes wertvoll, sondern nur als Ansammlung von Teilen.
- Mangelnde Relevanz: Meine Motivation, das Buch zu verzetteln, ist gering, weil ich nicht den Eindruck habe, dass die Verarbeitung des Buchs bestehende Projekte vorantreibt noch neue interessante (Schreib-)projekte hervorbringt. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass ich etwas für mich selbst lerne.
- Mangelnde Schönheit: Ich sehe nicht, dass mir das Buch eine besondere Ästhetik des Themas Selbstentwicklung gibt. Ich fühle mich nicht durch seine Anschauung inspiriert.
- Mangelnde Nützlichkeit: Beim Verarbeiten des Buchs merke ich, dass ich nicht so viele Gedanken festhalten kann oder tiefe Einsichten generiere. Das beste Wissen konnte ich generieren, wenn ich die Referenzen selbst verarbeitet habe.
Ursprünglich habe ich gedacht, dass ich die Verarbeitung des Buchs zum Anlass nehmen kann, um das Material in meinem Zettelkasten zu Maslow vertiefen und mit aktueller Forschung verbinden kann. Doch mein erster Eindruck wurde enttäuscht.
Normalerweise entwickle ich im Laufe der Verarbeitung ein gewisses Gefühl von Stimmigkeit des gesamten Buchs, auch wenn ich nicht in allen Punkten mit dem Autor übereinstimme. In dem Fall habe ich dieses Gefühl von Stimmigkeit nicht.
Das Buch ist weder Anlass dafür, meine bisherigen Ziele zu ändern (z.B. ein Schreibprojekt anders anzugehen oder anders zu leben), noch neue Ziele zu entwickeln (z.B. neue Schreibprojekte anzulegen). Gleichzeitig hilft mir die Verarbeitung nicht, meine aktuellen Ziele voranzutreiben.
Von hier aus habe ich zwei Optionen:
- Ich frage mich, ob ich mit einer anderen Arbeitsweise etwas herstellen kann, dass ein gutes Mittel für meine Ziele ist.
- Ich lege das Buch beiseite und widme mich anderer Arbeit.
Ich habe mich für die erste Option entschieden. Normalerweise verarbeite ich die Bücher direkt im Zettelkasten. Anstelle dessen erstelle ich ein schlampiges Exzerpt.
- Anstatt The Archive nutze ich TaskPaper. So kann ich das Exzerpt direkt in mein System für die Aufbewahrung von Vorprodukten kopieren. Dieses System verwalte ich mit TaskPaper. Ich verarbeite das Buch also außerhalb meines Zettelkastens. Schließlich erstelle ich keine atomaren Gedanken, sondern Vorprodukte dafür.
- Ich verarbeite beim Verarbeiten des Buchs keine Quellen, sondern sichte sie nur auf ihre mögliche Qualität. Ein Absatz von Kaufman ist für mich also manchmal nur Anlass, einen Satz zur Aussage des Absatzes aufzuschreiben und dann Links auf die von ihm angegeben Quellen zu suchen.
- Ich reduziere stark meine Gründlichkeit. Markierungen des Texts haben eine geringere Wahrscheinlichkeit darauf, dass ich gutes Wissen produzieren kann, wenn ich den markierten Text verarbeite. Daher bin ich weniger sorgfältig beim Verarbeiten, um wesentlich schneller voranzukommen.
Anstatt also sorgfältig einzelne Zettel zu erstellen, erstelle ich ein großes Exzerpt. Dadurch bin ich wesentlich schneller beim Verarbeiten. Was offensichtlich wertvoll ist, halte ich fest. Dann werde ich das dieses Exzerpt zu verarbeiten.
Ich nutze also einen weiteren Filter, um mehr Zeit damit zu verbringen, gutes Wissen zu produzieren. In diesem Fall habe ich beschlossen, dass das die gründliche Verarbeitung des Buchs kein gutes Mittel ist, um meine Ziele zu verfolgen. Es ist allerdings auch nicht rational, meine Ziele zu ändern oder neue zu definieren. Also ändere ich meine Weise, um meine Ziele besser zu verfolgen. Ich schaffe nämlich ein Exzerpt, dass mir dann als genau das Mittel dient, von dem ich hoffte, dass es das Buch sei.
Einige Teile des Exzerpts habe ich verschiedenen Projekten beigefügt. Den Großteil des Exzerpts habe ich aber unter der Überschrift “Maslow” dem Kapitel “Kartographie des Lebens” in meinem Buchprojekt “Selbstentwicklung” abgelegt. Wenn ich beschließe, dass dieses Kapitel auszuarbeiten, habe ich mit diesem Exzerpt sofort Material, um mit der Vorarbeit beginnen zu können.
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Eine wichtige Lehre, die ich mit diesem Artikel vermitteln will, ist, dass jede Arbeitsweise als ein Werkzeug in deinem Repertoire verstanden werden sollte. Allzu häufig wird der Irrglaube verbreitet, das Wichtigste sei “die eigene Arbeitsweise” zu finden. Ich reduziere meine zeitgenössische Kritik auf Folgendes: Ich halte es für eine weitere Manifestation des modernen und überaus narzisstischen Glaubens, man selbst sei das Wichtigste im Leben. Das praktische Problem ist, dass man durch die Festlegung auf eine eigene persönliche Arbeitsweise ebenfalls festlegt, mit welchen Problemen man fertig wird und mit welchen nicht. Die Überzeugung, man selbst habe eine Arbeitsweise, die am besten für einen selbst ist, stellt die Herausforderung der modernen Wissensarbeit auf den Kopf: Die Probleme richten sich nicht nach uns. Wir haben uns nach dem Problem zu richten.
Meine eigene Arbeitsweise basiert auf über einem Jahrzehnt der Praxis und dem intensiven Studium der Methoden der Verarbeitung. Die Gefahr ist, dass ich angesichts von oben beschriebenen Problemen, nicht mich selbst infrage stelle, sondern an meinem maladaptiven Selbst festhalte und das vorliegende Problem auf unproduktive Weise löse. Anstatt ein Exzerpt zu erarbeiten, dass mir später helfen wird, wichtige Teile meines Buchs über die Selbstentwicklung vorzubereiten, hätte ich das Buch beiseite gelegt und allenfalls eine schlechte Meinung vom Buch gehabt. Ich hätte es unter “interessant zu lesen, aber nicht zur tieferen Beschäftigung geeignet” abgelegt. Vielleicht hätte ich sogar meine Enttäuschung mit dem Buch assoziiert und würde es gar nicht erst empfehlen, obwohl es eine gute Lektüre für Menschen ist, die Maslow allenfalls über Wikipedia kennen. Es ist wie Viktor Frankl sagte:
Was hier not [sic!] tut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens: Wir müssen lernen und die verzweifelnden Menschen lehren, daß es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das Leben uns von erwartet![117][#viktor2018]
Gott sei Dank brauchen wir uns um die große Frage nicht sofort kümmern, sondern können sie auf das Problem der Wissensarbeit zurechtstutzen:
Wir müssen lernen, dass es eigentlich nicht darauf ankommt, wie wir arbeiten wollen, sondern welche Verarbeitung die Quelle erfordert.
Je größer unser Repertoire ist und – vielleicht noch wichtiger – wie gut wir mit diesem Repertoire geübt sind, desto wertschöpfender können wir mit Quellen umgehen.
Was mache ich mit dem Buch?
Du hast das Buch nicht gründlich und vollständig verzettelt. Hebst du es auf für später?
Nein. Es gilt das Minenprinzip.
Eine häufige Frage in Bezug auf das Verzetteln von Büchern (und anderen Quellen) ist, wie man die Quellen aufbewahrt, wenn man diese bearbeitet hat. Häufig sind die Nachfragenden erstaunt, wenn ich sage, dass ich keine Quellen aufbewahre.
Dahinter steckt eine einfache Rechnung:
Beim ersten Durchgang habe ich den größten Teil der für Ideen aus dem Text extrahiert. Der Text gleicht einer weitgehend erschöpften Mine. Ein neuer Text wäre eine weitgehend unberührte Mine. Das heißt, dass die Bearbeitung eines neuen Textes mit einer größeren Wahrscheinlichkeit zu einer produktiven Sitzung führt, als das erneute Durcharbeiten eines alten Texts.
Die Verarbeitung von Texten ist kein Zweck, sondern nur Mittel, um möglichst produktive Sitzungen zu generieren. Ich messe meine Produktivität daher nicht darin, wie viele Texte ich verarbeiten kann oder wie gründlich, sondern in der Menge der entfalteten Gedanken, der Qualität und Quantität der verstandenen Ideen.
Dabei gibt es selbstverständlich Ausnahmen wie etwa die Bibel oder Also Sprach Zarathustra von Nietzsche. Sie verfügen über eine so große Tiefe, dass es unrealistisch wäre, sie mit einem Durchgang ausgelotet zu haben.
Doch eine Studie über einen Vergleich von zwei Protokollen für Ausdauertraining brauche ich nicht aufzuheben.
Das erspart mir, eine systematische Ablage für PDFs und Ähnliches zu entwickeln.
-
Scott Barry Kaufman (2020): Transcend. The New Science of Self-Actualization, USA: TarcherPerigee. ↩