Lebensräume des Geistes: Der Zettelkasten als Denkumgebung
Im Artikel Lebensräume des Geistes: Denkumgebungen im Lebenswandel haben wir uns mit Denkumgebungen im Lebenswandel befasst. Eine dieser Denkumgebungen ist der Zettelkasten.
Cal Newport sieht in der Zettelkastenmethode eine der vielen Möglichkeiten der Wissenverwaltung.1 Dabei übersieht er eine ganz besondere Eigenschaft des Zettelkastens: Der Zettelkasten ist eine ganz besondere Denkumgebung: Sie ist integriert.
Was integriert der Zettelkasten?
- Denkwerkzeuge. Das können Vorlagen, Prompts, Kreativtechniken und Ähnliches sein. Einen Teil dieser Denkwerkzeuge gehören meiner Meinung nach zu den Basics der Entfaltung eines Gedankens. Ich habe sie zwar zum dringend empfohlenen Teil der Zettelkastenmethode erklärt, doch eigentlich sind sie wesentlicher Bestandteil des Werkzeugkoffers eines Denkers. Dazu gehört der Umgang mit Argumenten oder mit Modellen. Für eine Übersicht dieser Wissensbausteine, lies “Reading for the Zettelkasten Is Searching”). Auch sie sind in meinem Zettelkasten nur einen Link oder eine Suche entfernt. Außerdem habe ich Werkzeugkästen in meinem Zettelkasten vorbereitet. Wenn ich beispielsweise mit einer Denkaufgabe nicht weiterkomme, kann ich eine Werkzeugkiste nach einem passenden Lösungsweg durchsuchen.
- Die Gesamtheit des persönlichen Denkens. Auch komplexe Überlegungen sind nur wenige Klicks und Tastenschläge entfernt. So ist es mir ein Leichtes, meine Überlegungen zur Hundeerziehung mit meinen Ideen zur Kindererziehung zu verzahnen.2 Aktuell schreibe ich beispielsweise ein sehr komplexes Buch über Gewohnheiten, das wissenschaftliche Arbeit mit praktischer Anwendung und existentieller Analyse miteinander integriert. Im Zettelkasten kann alles mit allem verbunden werden. Er erlaubt mir eine hohe Komplexität zu kontrollieren. Dabei kann ich mich sowohl auf den einzelnen Gedanken konzentrieren, als auch einen Schritt zurücktreten und das größere Ganze betrachten. Dabei habe ich auch mein Denken von vor 15 Jahren parat. Das heißt, dass ich über die volle Macht der Gesamtheit meiner früheren Ichs verfüge. Mit diesem Team kann ich sehr viel größere Leistungen vollbringen als alleine.
- Denkoberflächen. Jeder Zettel dient gleichzeitig als Denkoberfläche. Wenn ich beispielsweise einen Gedanken zu Gewohnheit einordnen will, gehe ich zu meinen wichtigsten Strukturzetteln für Gewohnheit. Diese geben mir dann Zugang zu den Bereichen meines Zettelkastens, die sich mit Gewohnheitsarbeit befassen. Für die Einordnung habe ich sofort Denkoberflächen, meistens Strukturzettel.
Die Zettelkastenmethode ist weder eine Methode des Notizenmachens, noch eine Methode des Wissensmanagements. Vielmehr verwendet sie Methoden des Notizenmachens (zum Beispiel wertschöpfende Wissensarbeit) und Methoden des Wissensmanagements (zum Beispiel Objektschlagwörter oder atomare Zettel), um dem Zettelkastennutzer zu erlauben, eine auf ihn zugeschnittene integrierte Denkumgebung zu schaffen. Eine andere Bezeichnung für den Zettelkasten könnte sein: Denk-Abakus.
Der Zettelkasten ermöglicht eine immense Erweiterung des Denkvermögens
Er erlaubt beliebig lange an einer einzigen Sache zu arbeiten. So habe ich beispielsweise 2015 eine Grundstruktur für Gewohnheitsarbeit in meinem Zettelkasten aufgebaut. Als ich 2023 beschlossen habe ein Buch über Gewohnheitsarbeit zu schreiben, konnte ich auch nach 8 Jahren nahtlos weiterarbeiten.
Er skaliert automatisch den Fokus. Ich könnte beispielsweise die komplette Wikipedia in meinen Zettelkasten kopieren und es würde überhaupt nichts daran ändern, wie ich mit meinem Zettelkasten arbeite. Diese Skalierung ist besonders für komplexe Denk- und Schreibprojekte nützlich.
Er trennt sauber die Denkarbeit von der Schreibarbeit. Wenn wir beispielsweise einen Artikel schreiben, machen wir dies in mehreren Phasen: Wir lesen und machen uns Notizen, dann schreiben wir, und zum Schluss überarbeiten wir. Dabei wird unterschiedliches vermischt. Beim Überarbeiten verrichten wir beispielsweise viel Denkarbeit. Wir überraschen uns beim Schreiben durch neue Ideen und Einfälle (ungehemmtes Schreiben lädt zum divergenten Denken ein). Dadurch müssen wir beim Editieren den Text unter Berücksichtigung unseres neuen Verständnisses umstrukturieren (Editieren ist ein Akt konvergenten Denkens). Die Folge ist zum Beispiel, dass das Überarbeiten nicht nur die Form der Präsentation betrifft, sondern auch die innere Logik des Inhalts. Das sind zwei unterschiedliche Weisen des Denkens, die oft dazu führen, dass man während des Überarbeitens Schwierigkeiten hat. Diese Schwierigkeiten werden oft positiv bewertet, weil man schließlich mit dem Text ringt und das der Akt des Verstehens selbst ist. Daher wird oft empfohlen, dass das Schreiben (ebenso wie Lehren) ein hervorragendes Mittel ist, um die eigene Expertise zu erweitern. Doch ein Teil der Schwierigkeiten stammen nicht von der nötigen Verstehensleistung, sondern Vermischung zweier Tätigkeiten. Die Erkenntnis, dass sich das Schreiben verbessert, wenn man die Textproduktion vom Überarbeiten trennt, ist nicht neu. Die Schwierigkeiten und die Mühe, die dabei entstehen, wenn man diese beiden Tätigkeiten nicht voneinander trennt, wurden als Ballast erkannt und abgeworfen: Erst wird geschrieben und dann überarbeitet.
Eben diese Erkenntnis führt zur Schlussfolgerung, dass man die Denkarbeit von der Arbeit an der Präsentation des Denkens voneinander trennen sollte. Doch man kann diese Schlussfolgerung nicht ziehen, wenn man keine entsprechende Denkumgebung hat wie den Zettelkasten. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als die beiden Weisen zu vermischen. Erst eine integrierte Denkumgebung erlaubt einem diese Trennung.
Eben das ist, was Newport noch nicht sehen kann, weil er den Zettelkasten mit einem System für Notizen verwechselt, während der Zettelkasten in Wirklichkeit Notizen benutzt, um eine integrierte Denkumgebung zu schaffen.
Wenn man aber sowieso schreiben muß, ist es zweckmäßig, diese Aktivität gleich auszunutzen, um sich im System der Notizen einen kompetenten Kommunikationspartner zu schaffen.3
Selbst Luhmann hat diese Unterscheidung erkannt. Er nennt den Zettelkasten einen Kommunikationspartner (ergibt vor dem Hintergrund seiner soziologischen Arbeit Sinn). Ich nenne ihn eine integrierte Denkumgebung.
Wichtig: Die Arbeit mit dem Zettelkasten bedeutet keinen zusätzlichen Zeitaufwand. Man verlagert nur einen Teil der intensiven Denkarbeit von anderen Denkumgebungen in den Zettelkasten.
Abschließende Worte
Die Zettelkastenmethode hält, was Memex versprochen hat.
Meine Vermutung ist, dass sich die frühen Entwickler von Hypertexttechnologien zu sehr auf die technische Realisierung konzentriert haben. Das ist übrigens auch heute ein Problem. Heutzutage wird auf allzu komplexe Software gesetzt. Die Fehlannahme ist, dass die Macht der Software eine wichtige Komponente für die integrierte Denkumgebung ist. Doch alleine Luhmanns Zettelkasten sollte gezeigt haben, dass sogar Zettel und Stift ausreichend sind.
Der problematische Nebeneffekt ist, dass das Basteln mit der Software zunächst als wichtige Personalisierung anfängt, dann zu einem zeitraubenden Hobby wächst und später dann zu einer gefährlichen Ablenkung und Abhängigkeit (die wiederum durch Influencer und Content Creator bedient und versilbert wird).
Ich selbst stelle mich nicht in die Tradition von Bush oder Nelson, sondern in die Tradition von Luhmann. Das ist mir wichtig, weil ich nicht glaube, dass die Entwicklung von Technologie der beste nächste Schritt ist. Unsere eigene Software ist genau aus diesem Grund als Distraction Free Editor zu verstehen: Während in der Domäne der Schreibsoftware erst ein Umweg über die komplexe Oberfläche von Programmen wir Microsoft Word genommen wurde, bis man zu Programmen wie dem iA Writer gelangt ist, haben wir eine Abkürzung genommen. Diese Entscheidung ist durch die Praxis informiert. The Archive ist von Nutzern für Nutzer.
Cal Newport zeigt bisher eine rational-konservative Skepsis, die jeder erfolgreiche Mensch zeigen sollte, wenn er mit einem neuen System oder einer neuen Methode konfrontiert wird. In jeder Domäne gehen die meisten Trends so schnell wie sie kommen.
Doch meine Prognose ist: Wer in 10 Jahren keinen Zettelkasten hat, keine integrierte Denkumgebung, ist genauso benachteiligt wie jemand, der heute kein System für Aufgabenmanagement oder einen Kalender benutzt. Es geht irgendwie ohne. Doch man sieht diejenigen an sich vorbeiziehen, die wissen, wie sie ein solches Werkzeug bedienen.
Warum? Die Anforderungen an die Qualität des Denkens steigen. Noch braucht man nur die Tipps von Cal Newport befolgen, sich auf die den Aufbau von Qualifikationen und der Implementation von Deep Work Strategien konzentrieren, um sich ausreichend vom Markt abzusetzen. Noch kann man auf YouTube mit Aufmerksamkeitsstrategien wie cleveren Thumbnails und reißerischen Titeln punkten. Noch kann man sich mit dem üblichen Mangel an System und Methodik in der Wissenschaft behaupten.
Doch was ist, wenn nicht nur einzelne Menschen wie Luhmann eine integrierte Denkumgebung benutzen? Was ist, wenn eine integrierte Denkumgebung zum Standardrepertoire des Wissensarbeiters gehört? Meiner Meinung nach ist es nur eine Frage der Zeit, bis die neuen Denktechnologien zur Norm geworden sind.
Aus diesem Grund habe ich mich für ein Gewohnheitsbuch als mein nächstes Schreibprojekt entschieden. Es gehört zwar zu meinem Kernwerk über das gute Leben. Doch mit ihm will ich das Potenzial der Zettelkastenmethode demonstrieren. Ich frage mich, wie der wissenschaftliche Fortschritt wäre, wenn unsere Wissenschaftler über Jahrzehnte einen einzigen Gedanken verfolgen, Jahre pausieren, und nahtlos weitermachen könnten, wo sie aufgehört haben, oder eine Denkumgebung nutzen, die ihnen erlaubt unabhängig von Größe und Komplexität ihres Interesses zu arbeiten.
Praktische Implikation
- Behandle deinen Zettelkasten als Denkumgebung. Der Zettelkasten sollte keine Extraarbeit für dich bedeuten. Vielmehr solltest du einen Teil deiner Denkzeit in den Zettelkasten verlagern.
- Starte jetzt deinen Zettelkasten!
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Solange das Kind noch keine Sprache versteht, ist das Grundproblem ein ähnliches wie bei der Kommunikation mit dem Hund: Wie kann man einem anderen Wesen einfache Informationen übermitteln, ohne auf sprachliche Inhalte zurückzugreifen? ↩
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Niklas Luhmann (1993): Kommunikation mit Zettelkästen, in: Universität als Milieu, Bielefeld: Haux. ↩