Verwandle atomares Denken in holistisches Denken
In seinem Essay Atomic Thoughts schreibt Matt Gemmell über die Idee des atomaren Gedanken. Das Prinzip der Atomizität sei ein anleitendes Prinzip, um eine größere und komplizierte Idee zu verstehen. Seine Macht liege darin begründet, dass es der Arbeitsweise unseres Verstands entspricht. Die Anwendungsempfehlung könnte man so zusammenfassen:
Wann immer Du auf einen schwer zu begreifenden Gedankengang stößt, zerlege ihn in kleinere und dadurch leichter zu verstehende Bestandteile.
Leider ist dies nur die halbe Wahrheit.
Analyse ist nur ein Teil des Verstehens, nicht aber Verstehen selbst
Das Herunterbrechen des Gedanken ist zweifellos wertvoll, weil es das Problem des Verstehens bei der Wurzel anpackt: Es ist nicht die Länge der Strecke, die unser Verstand zurücklegen muss, die uns herausfordert. Vielmehr ist es die Frage, wo wir überhaupt mit dem Verstehen anfangen sollen. Sind wir einmal in Schwung gekommen, geht sich der Weg fast von alleine.
Gemmell geht jedoch ein Stück zu weit:
Wesentlich ist, dass man es aufbricht und dann wieder zusammenfügt. So scheint unser Verstand zu funktionieren, und es ist sicherlich der Ansatz, den ich für geordnete und aufschlussreiche Gedanken am förderlichsten finde. (Meine Übersetzung, https://mattgemmell.scot/atomic-thoughts/)
Es gibt ein ganzes Buch, dass vor diesem Gedanken warnt: The Master and His Emissary von Iain McGilchrist.1 Die Warnung lautet: Die allzu starke Konzentration auf die analytische Weise führt zu einer verengten Sicht. Dieser Tunnelblick führt zu falschen Annahmen über die Welt. Und wer nach falschen Annahmen handelt, wird bestraft.
Die analytische Weise ist die Weise der linken Gehirnhälfte. Metaphorisch gesprochen nimmt die linke Gehirnhälfte das, was die rechte als Ganzes präsentiert, und zerlegt es, bis es tot ist. Sie seziert lebendige Gedanken der rechten Gehirnhälfte zu Tode. Unsere rechte Hemisphäre scheint eine lebendige Welt zu beherbergen, während die linke Hemisphäre ein Industriekomplex ist, der das Lebendige herausreißt und damit seine kalte Maschinerie füttert. Und was noch schlimmer ist: Die linke Hemisphäre scheint gierig zu sein, hält an den Teilen fest, die sie entnommen hat. Dabei müssen die Teile der rechten Hälfte zurückgegeben werden, damit sie wieder Teil der lebendigen Gedankenwelt werden können.
Das heißt nicht, dass die linke Gehirnhälfte grundsätzlich problematisch ist. Sie liefert uns tiefe Einsichten. Sie ermöglicht uns, über etwas nachzudenken. Erst sie gibt uns die Möglichkeit einzelne Eigenschaften der Welt herauszulösen und Gemeinsamkeiten von einzelnen Eigenschaften in dem zu sehen, was für die rechte Gehirnhälfte einzigartige Vorkommnisse in der Welt sind. Wenn die rechte Gehirnhälfte uns im Kontakt mit der lebendigen Erde hält, lässt uns die linke zum Geist werden und in den Himmel fliegen.
Was von der linken Gehirnhälfte einmal entfaltet und seziert wurde, sollte an die rechte Seite zurückgegeben und wiederbelebt werden. Die linke Gehirnhälfte ist dazu nicht in der Lage, weil sie versucht, die gleiche Weise zur Herstellung des Ganzen zu nutzen, die sie für das Zerlegen benutzt. Doch was lebendig war, und zu Tode seziert wurde, kann nicht wieder lebendig gemacht werden, indem man es zusammennäht. Es muss verdaut werden und Nahrung für ein lebendiges Wesen werden. Wir können uns nicht ein Stück Muskel eines Rinds annähen, sondern müssen das Fleisch essen, verdauen und dann seine Aminosäuren für den Aufbau unserer eigenen Muskeln verwenden.
An der musikalischen Ausbildung können wir das Zusammenspiel beider Gehirnhälften beobachten: Technisches Wissen über Rhythmus und Harmonie macht die Musik für den Musiker nicht kalt und tot. Vielmehr vertieft dieser analytische Blick ihre Wertschätzung. Ein voll entwickelter Musiker lebt sowohl im Geist als auch im Körper der Musik. Er steigt in den Himmel und löst sich von den Fesseln des Körpers. Gleichzeitig hält er Kontakt zur Erde und fühlt den Boden. Er macht das, was Jung sagte: Du reichst so hoch in den Himmel hinauf, wie deine Wurzeln in Richtung des Höllengrundes reichen.2
Wenn man jedoch die Analyse und die Weise der linken Gehirnhälfte mit der Arbeit des menschlichen Geists ingesamt verwechselt, verliert man seine Erdung. Unser Forumsmitglied @Amontillado trifft den Kern des Problems:
Die Aufteilung in eine Gliederung macht das Erzählen zu einer gestelzten Sache. (Meine Übersetzung, Link zum ganzen Beitrag im Forum)
@Will bestätigt:
Ich habe dieselbe Erfahrung mit Gliederungen gemacht: Sie fühlen sich an, als würden sie irgendwo hinführen, wenn sie in der Gliederungsform sind. Und es fällt mir schwer, sie zu benutzen, um die beabsichtigte Geschichte zu schreiben. (Meine Übersetzung, Link zum ganzen Beitrag im Forum)
Es gibt ein Phänomen, dass ich “grobmotorische Probleme mit Feinmotorik lösen” nenne. Es zeigt anschaulich, was passiert, wenn die linke Gehirnhälfte ihre Zuständigkeit überschreitet. Kämpfen, Werfen, Rennen und Raufen sind Domänen der Grobmotorik. Selbst technisch anspruchsvolle Aspekte wie Schlagkombinationen im Boxen oder Kombinationen von schnellen Richtungswechseln im Fußball sind grobmotorische Aufgaben. Die (gute) Lehre dieser Techniken folgt zwar dem üblichen Muster, sie in kleinere Teilaufgaben zu zerlegen und dann wieder zusammenzufügen. Doch die Rückführung muss den Sprung in einer fließenden Ausführung eines Ganzen schaffen. Dieser Sprung ist ein Paradigmenwechsel. Schafft man diesen Sprung nicht, bleiben die Bewegungen hölzern und mechanisch. Sie können zwar aneinandergereiht werden, bleiben jedoch unharmonisch. Sie bleiben gestelzt. Leicht zu erkennen ist der Nerd, der ganz in der Welt des Geists und der Analyse lebt, sich aber wie eine unbeholfene Marionette bewegt, wenn er den Basketball dribbeln soll. Der Frust, den diese Menschen beim Sport empfinden, wenn sie dabei unter Druck gesetzt werden, ist der Frust der linken Gehirnhälfte.3 Seltener ist der Fall, dass Menschen mit einem guten Körpergefühl (Grobmotorik) anfangen, dafür aber Schwierigkeiten haben, von einzelnen Technikübungen zu profitieren. Schließlich ist die rechte Gehirnhälfte dafür gemacht, das zu verarbeiten, was die linke verdaut hat.
Diese drei Phänomene, das Scheitern einer Resynthese mit analytischen Mitteln, der Tiefgang eines Musikers und die Probleme grobmotorischen Lernens können sich wunderbar durch die Weise erklären, wie die beiden Hälften unseres Gehirns zusammenarbeiten müssen, um ein vollständiges Bild der Realität zu erschaffen. Was lebendig in der rechten Hälfte geboren wird, wird der linken zur Analyse übergeben, muss aber seinen Weg zur rechten Hälfte zurückfinden.
Wissensarbeit unterliegt den gleichen Regeln. Erst wenn wir unser Gehirn harmonisch benutzen, kommen wir zu guten Ergebnissen. Wir müssen beide Gehirnhälften einsetzen. Und: Wir müssen sie in Beziehung setzen.
Die Gemeinsamkeit der Feynman-Technik und der Zettelkastenmethode liegt in der rechten Hälfte
Die Feynmantechnik ist ein Beispiel dafür, wie man beide Seiten des Gehirns zum Verstehen benutzt. Im Wesentlichen funktioniert die Technik so:
- Wähle ein Thema aus und versuche es einem anderen Menschen zu erklären.
- Halte alle Lücken in deinem Erklärungsversuch fest.
- Schließe die Lücken durch Lernen.
- Wiederhole Schritt 1–3 bis du zufrieden bist.
Wir fangen mit einem Gespräch an und versuchen die ganze Sache zusammenhängend zu erklären. Erst in den Momenten des Scheiterns treten wir einen Schritt zurück und analysieren (linke Gehirnhälfte). Doch dann kehren wir zurück, bis wir ein harmonisches Ganzes erschaffen haben. Dieses Ganze finden wir erst im Kontakt mit einem anderen Menschen. Wir finden es nicht alleine während der Analyse. Erst im Gespräch und der zusammenhängenden Erklärung finden wir das Ganze. Erst die Rückkehr zur rechten Gehirnhälfte gibt uns das Ganze.
Dies ist die besondere Stärke der Feynmantechnik: Sie ist eine gehirn-gerechte Denktechnik.
Auch die Zettelkastenmethode liefert uns erst ein wirkliches Verständnis, wenn sie Arbeitsweise unseres Gehirns berücksichtigt.
- Folgen wir der Hantelmethode des Lesens, beginnen wir noch nicht mit der genauen Analyse, sondern betrachten im ersten Lesezyklus die Quelle als Ganzes. Dabei bemerken wir lediglich Einzelnes, dass heraussticht. Wir bleiben, soweit es uns möglich ist, im Modus der rechten Gehirnhälfte. Wir gewinnen eher ein Gefühl für die Quelle als ein genaues Wissen.
- Beim Verarbeiten, dem zweiten Lesezyklus, beginnen wir die Analyse: Wir sezieren die Quelle zu einzelnen atomaren Gedanken. Wir nutzen dabei voll die Stärke der linken Hemisphere.
- Jeden atomaren Gedanken, jeden Zettel bringen wir in Verbindung mit anderen Gedanken. Dies ist ein schwieriger Schritt, denn einerseits nutzen wir immer noch die analytische und in Teilen denkende linke Hemisphere. Andererseits müssen wir den Sprung schaffen, die einzelnen Teile unserer rechten Hemisphere zu übergeben, um ein Ganzes zu schaffen.
Es ist dieser dritte Schritt, der wahrscheinlich den meisten Menschen Probleme bei der Zettelkastenmethode macht. Es ist zwar kein zettelkastenspezifisches Problem, sondern ein allgemeines Problem der Denkweise. Doch die Zettelkastenmethode deckt dieses Problem zuverlässig auf. Eine der häufigsten Klagen von Zettelkastenanfänger ist, sie hätten die Methode nach bestem Gewissen angewandt, doch haben sie nicht das Gefühl, dass etwas im Zettelkasten passiert. Sie befolgen das Prinzip der Atomizität und setzen Verknüpfungen. Und trotzdem “spricht” der Zettelkasten nicht zu ihnen. Ihr Zettelkasten wird nicht lebendig. Dieses Problem entsteht, wenn man den Schritten im Wortlaut folgt, aber nicht dem Geist der eigentlichen Anweisungen.
Es gibt einiges, was in diesem dritten Schritt hilft, sich von der analytischen Weise der linken Gehirnhälfte zu lösen und die rechte Hälfte mit ins Boot zu holen.
- Wir brauchen Orte im Zettelkasten. In ihnen können sich die einzelnen Gedanken zusammenfinden und verbinden. Ich nenne diese Orte Strukturzettel. Natürlich gibt es Methoden und Techniken, um diese “korrekt” zu gestalten. Doch ist es nicht gerade die “korrekte” Anwendung von Methodik und Technik, die bisher nicht zum Erfolg geführt hat? Die besondere Zutat, damit sich die Gedanken zu Ganzem verbinden können, ist Leben. Die Strukturzettel sollten etwas behandeln, was dir wichtig ist und was du mit in die Welt nehmen willst. Ein Dungeons and Dragons Spieler, der einen Strukturzettel über seinen Charakter schreibt, wird diesem Sprung besser schaffen, als jemand, der Informationen zusammentragen will, weil er glaubt, dass sie später nützlich sein könnten.
- Es geht um den Gedanken und nicht um den Zettel. Die Methoden und Techniken der Zettelkastenmethode scheitern, wenn man glaubt, dass ihre Anwendungsziele Zettel sind. Es geht immer nur um die darin enthaltenen Gedanken. Die Zettelkastenmethode ist keine Methode, die Gedankenbürokratie erlaubt. Sie erlaubt nicht, die eigentliche Denkarbeit zu vermeiden. Sie ist vielmehr eine Einladung und liefert eine Denkumgebung. Der Zettelkasten verhält sich zum Denkenden, wie die Werkstatt zum Handwerker: Gute Werkzeuge und eine liebevolle Einrichtung ermöglichen gute Arbeit, ersetzen sie aber nicht. Daher kann man auch großartige Denkarbeit ohne Zettelkasten verrichten und wundervolle Handwerksarbeit kann auch unter widrigsten Umständen entstehen.
- Du brauchst viel Übung. Meiner Ansicht fehlt es den meisten Anfängern der Zettelkastenmethode an Übung im Umgang mit Wissen. Wenn man den Grundstoff namens “Wissen” nicht versteht, hilft keine Methode, die die Werkzeuge zur Bearbeitung dieses Grundstoffs bereitstellt. Was nützt einem der tollste Workflow, wenn man kein tieferes Urteil über eine Passage fällen kann als “das ist bestimmt nützlich”. Die beste Strategie im Fußball nützt nichts, wenn man den Ball nicht am Fuß halten kann.
Ich kann nach mehr als einer Dekade der Arbeit mit dem Zettelkasten berichten, dass sich die Arbeit mit dem Zettelkasten erheblich durch Vertrautheit verändert hat. Meine persönliche Lieblingsmetapher für den Zettelkasten ist der Permakulturhof. Permakultur basiert darauf, die Kreisläufe der Natur zu beobachten, und selbst ein funktionierendes Ökosystem aufzubauen, in das der Mensch sich harmonisch einfügt. Sie schafft den Spagat zwischen landwirtschaftlicher Nutzung und lebendiger Natur. Meine Strukturzettel streben danach, permakulturelle digitale Gärten, Ökosysteme, zu werden. Das Eigenleben des Permakulturhofs wird zum gelebten Erfolgskriterium für Nachhaltigkeit. Das kann man nicht sich nicht ergaunern wie ein Zertifikat. Ich habe zwar auch einfache Lagerorte (zum Beispiel Werkzeugkisten). Aber die besten Strukturzettel entwickeln ein solches Eigenleben.
Was das für die Praxis heißt
Das Eigenleben der Zettelkastenmethode entsteht nur dann, wenn wir mehr als nur Analyse betreiben.
- Schaffe Orte in Deinem Zettelkasten. So gibst Du Deinen Gedanken einen Ort, an dem sie sich treffen können.
- Arbeite mit den Gedanken deines Zettelkastens. Vermeide Denkbürokratie, indem du mehr machst, als die methodischen Meilensteine der Zettelkastenmethode „korrekt“ abzuarbeiten.
- Übe viel. Erst mit der Übung trainierst du deine Intuition dafür, was funktioniert, und was nicht.
- Sprich mit anderen über deine Gedanken. Feynman ist nicht der einzige, der dies lehrt. Schon von Kleist hat dies in seinem Aufsatz Ueber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden ca. 150 Jahre früher besprochen und Sokrates mehr als 2000 Jahre davor.
- Schreibe ganze Texte. Das Schreiben kompletter Texte ist dem Reden ähnlich. Im Schreibfluss erkennen wir vieles, was uns in Stichpunkten und Gliederungen verborgen blieb.
Abschließende Worte
Ich habe meine Punkte wahrscheinlich stärker als nötig formuliert. Dieser Artikel nur einer von Matt Gemmells Artikeln. Ich habe den Artikel als Atom behandelt, ohne Matts andere Meinungen zu berücksichtigen. Erst ein Gespräch mit Matt könnte mir wahren Kontext geben.
Matt, falls du dich missverstanden fühlst: Eine dicke Entschuldigungsumarmung an dich.
Christians Kommentar: Das Prinzip der Atomizität hat mir als Programmierer zugesagt, weil es meinem analytischen Arbeitsprozess entgegen kommt. Ich konnte damit im Zettelkasten nahtlos mit der Denkweise weitermachen, in der ich den Rest des Tages über sowieso verbringe. All die Jahre zusammenfassend kann ich nur bestätigen, dass aus diesem analytischen Trott herauszukommen schwierig ist, aber sehr fruchtbar. Gespräche mit Sascha und unsere Kooperation hinter den Kulissen für diesen Blog machen mir das immer wieder klar.
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Iain McGilchrist (2009): The Master and his Emissary. The Divided Brain and the Making of the Western World, Totton: Yale University Press. Auf Amazon ↩
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Antiklassizistische Musikbewegungen basieren auf dem Missverständnis, dass Formalität und Lebendigkeit von Musik unvereinbar sind. ↩
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Ein großer Teil dieser Probleme kann durch gute Lehrmethoden behoben werden. Dabei ist es erstaunlich, welche seelische Entwicklung Menschen erleben, wenn sie sich beim Erfolg erleben, wo sie Niederlage erwarten. ↩