Zettelkasten

Cal Newport vs Zettelkasten – TRAURIG! (Clickbait)

Lieber Herr Newport,

mit großem Schrecken und in tiefer Sorge habe ich Ihren Podcast Episode 287 - Minimalist Notes gehört. Es tut mir wirklich, wirklich leid, dass sie immer noch keinen Zettelkasten haben.

Zwischenbemerkung: Nachfolgend ein paar Kommentare zu Cal Newports Podcast. Ich halte den obigen Ton nicht mehr durch. :)

Verringerung der Reibungsverluste ist Teil der Zettelkastenmethode

Die Ausgangsthese von Cal Newport ist, dass die meisten Systeme eine Kombination aus komplizierter Software und noch komplizierterer Methode sind.

Ich glaube, er trifft einen richtigen Punkt, schreibt ihn aber fälschlicherweise auch der Zettelkastenmethode zu: Einer meiner wichtigen Ziele ist, eben diese Reibungsverluste zu minimieren.

Der richtige Punkt ist, dass in der Tat viele Menschen eine komplexe Maschine bauen, vielleicht in der Annahme, dass das Einfangen von Informationen ein komplexes Problem ist. Das ist es nicht. Aber Cal Newport missversteht den Zettelkasten als Notizenablage. Ist man nur an einer Notizenablage interessiert, braucht man die Zettelkastenmethode nicht. Ich vermute, dass man durch Strukturzettel ein ziemlich schnelles Ablagesystem entwickeln kann. Schließlich ist einer der Effekte der Strukturzettel, dass man das Multiple-Storage-Problem löst und gleichzeitig einen direkten und schnellen Zugriff auf die “Ordner” erhält. Aber genauso gut könnte man dann die abgelegten Notizen verschlagworten.

Außerdem scheint mir, als würde Newport nicht zwischen gelesenen und aufbereiteten Quellen unterscheiden: Notizen sind “Zeug”, dass man irgendwo hintun muss.

Die ganze Konzeption hat wenig mit der Zettelkastenmethode zu tun: Im Zettelkasten legen wir genau genommen nichts ab, sondern entwickeln unser Verständnis von einer Sache innerhalb des Zettelkastens. Dass wir dabei Zitate im Zettelkasten ablegen oder auf eine Quelle verweisen, gehört lediglich dazu, steht aber nicht im Zentrum der Arbeit.

Für die Ablage von Quellen beispielsweise nutze ich meine Anpassung von Tiago Fortes 2nd Brain. Es funktioniert als “Feeder-System”, das Vorprodukte zur eigentlichen Verarbeitung bereithält. Ähnlich wie bei Newports System von Projektordnern geht es mir dabei nur darum, mit möglichst wenig Aufwand einen Link auf eine Website oder ein lokal gespeichertes PDF zu platzieren. Auch wenn ich Ideen habe, wie ich eine bestimmte Quelle verwenden will oder welche Artikel ich schreiben könnte, kommt das in mein Feeder-System.

Aber die Arbeit im Zettelkasten gestaltet sich äußerst arm an Reibungsverlusten: Wenn ich beispielsweise eine Idee zu “Selbstkontrolle” einpflegen will wie den Restraint Bias,1 gehe ich innerhalb von wenigen Sekunden zur entsprechenden Stelle in meinem Zettelkasten und lege los. Diese Schnelligkeit basiert zu einem großen Teil darauf, dass die Zettelkastenmethode ebenfalls das Gehirn trainiert, was mich direkt zum nächsten Punkt bringt.

Der Zettelkasten ist Gehirntraining

Newport geht auf den Anspruch an Notizsysteme ein, dass sie dazu dienen, dem Nutzer die Erinnerungsarbeit abzunehmen: Hat man so ein System, so die Annahme, brauche man sich selbst nicht erinnern, sondern schaut dann ganz einfach nach.

Auch hier bin ich im Grunde gleicher Meinung wie Newport. Wenn man sich nicht an das erinnern, was einem auf der Zunge liegt, kann man zwar im Zettelkasten nachsehen. Aber dies weist eher auf einen Fehler in der Verwendung der Zettelkastenmethode hin.

Um mit einem Knall in diesen Aspekt der Zettelkastenmethode einzusteigen: Wenn man meinen Zettelkasten zerstören würde, hätte sich die Arbeit an ihm dennoch gelohnt.

Oben habe ich erwähnt, dass ich innerhalb weniger Sekunden zur richtigen Stelle in meinem Zettelkasten gehe, wenn ich eine Idee einpflegen will. Dies basiert darauf, dass mein Gehirn bei der Arbeit mit dem Zettelkasten auf die inhaltlichen Beziehungen trainiert wird. Wenn ich in meinen Zettelkasten hineingehe, ist er mir kein rätselhafter, unbekannter Ort. Ich kenne alle wichtigen Hubs und Einstiegspunkte, kenne die Beziehungen der unterschiedlichen Themenbereiche und Orte des Denkens. In meinem Zettelkasten bin ich ein Londoner Taxifahrer, der über eine innere Karte verfügt. Das Medium des Londoner Taxifahrers sind die Straßen Londons, mein Medium ist der Zettelkasten. Gemeinsam ist uns, dass wir durch das Medium schwimmen wie ein Fisch. Ein Fisch muss sich keine Gedanken darüber machen, wie er von A nach B kommt. Er sieht B und schwimmt. So bewege ich mich durch meinen Zettelkasten. Das ist natürlich nicht hundertprozentig korrekt. Aber immerhin beinahe.

Diese innere Karte, die man bei der Arbeit mit dem Zettelkasten entwickelt, hat eine ähnliche Funktion wieder Gedächtnispalast. Der Gedächtnispalast ist eine Mnemotechnik, bei der man sich zunächst die mentale Vorstellung eines Gebäudes aufbaut und dann Informationen gewissermaßen an bestimmten Orten ablegt.

Der Unterschied zwischen dem, was man sich durch den Zettelkasten erarbeitet und der Gedächtnispalasttechnik ist, dass der Gedächtnispalast eine reine Erinnerungstechnik ist. Dabei werden an und für sich sinnlose Verknüpfungen und die Arbeitsweise des Gehirns ausgenutzt, um einen Zugriff auf eine Information zu erhalten. Wenn ich beispielsweise mental das Gründungsdatum von Rom mit dem Merkspruch “Sieben, Fünf, Drei, Rom kroch aus dem Ei” als Zahl auf ein Ei im Kühlschrank der Küche schreibe, ist die einzige Daseinsberechtigung dieser Verknüpfung vom Ei im Kühlschrank der Küche meines Gedächtnispalasts und dem Gründungsjahr Roms, dass ich diese Zahl erinnern kann. Man macht sich bewusst, was das Gehirn sonst unbewusst macht.

Die innere Karte, die man sich durch den Zettelkasten entwickelt, ist dagegen direkt mit dem Wissen selbst verknüpft. Die Verbindung zwischen den Zetteln über Restraint Bias und Selbstkontrolle besteht aufgrund des tatsächlichen Zusammenhangs beider Phänomene. Natürlich erinnere ich, wie die Zettel miteinander verknüpft sind, ich weiß, wo welcher Link platziert ist und Ähnliches. Aber ich denke nicht an den Link, sondern denke an die inhaltliche Verbindung zwischen den Begriffen und Modellen. Der Zettelkasten ist in diesem Punkt, in der Weise wie Assoziationen geschaffen werden, dem Gedächtnispalast überlegen. Ich kann natürlich nicht behaupten, dass die Zettelkastenmethode zu einer besseren Gedächtnisleistung als der Gedächtnispalast an und für sich führt. Das ist eine empirische Frage, für die man Experimente bräuchte.

Newport sagt an einer Stelle, sein System habe den Effekt, dass sein Gehirn immer wieder mit Quellen in Kontakt gebracht wird. So arbeite sein Gehirn laufend neue Ideen und Zusammenhänge aus. Dieser Effekt ist beim Zettelkasten sehr viel stärker ausgeprägt als bei Newports System. Wenn man den Verweisungen des Zettelkastens folgt, geschieht genau das: Man wird immer wieder mit den bereits verarbeiteten Ideen konfrontiert. Auf diese Weise aktiviert der Zettelkasten übrigens den Nutzer und regt zu neuen Ideen und neuem Denken an. Der Unterschied ist, dass man beim Zettelkasten auf Gedanken stößt, die man sich bereits zu eigen gemacht hat. Jeder Gedanke löst damit viel mehr Assoziationen aus, weil man sich bereits im Vorfeld intensiv mit dem Gedanken auseinandergesetzt hat und die Auseinandersetzung auf den jeweiligen Zetteln festgehalten hat.

Die Zettelkastenmethode ist intensives Gehirntraining.

Newport erwähnt einen weiteren Punkt, der in diese Richtung geht: Die Erinnerungen sind Teil der Mustererkennung, die man für das spätere Lesen braucht.

Eben das leistet der Zettelkasten und noch mehr. Die Muster, die man erlernt, werden nicht nur durch das Lesen gebildet. Lesen selbst ist eine sehr oberflächliche Weise der Verarbeitung. Was man dagegen mit dem Zettelkasten verarbeitet hat, erzeugt den Effekt, auf den Cal Newport wert legt, wesentlich besser.

Dieser Effekt ist natürlich nicht eine einzigartige Eigenschaft der Zettelkastenmethode. Jede intensive Verarbeitung von Quellen würde zu diesem Gehirntraining führen. Doch der Zettelkasten baut auf diesem Effekt auf.

Luhmann selbst hat dies so formuliert:

Wenn man aber sowieso schreiben muß, ist es zweckmäßig, diese Aktivität gleich auszunutzen, um sich im System der Notizen einen kompetenten Kommunikationspartner zu schaffen.2

Je länger man mit dem Zettelkasten arbeitet, desto mehr wird er zur integrierten Denkumgebung. Luhmann hat dies als “Kommunikationspartner” bezeichnet, weil er in seinen systemtheoretischen Begriffen denkt. Der gemeinsame und hier wesentliche Faktor ist, dass der Zettelkasten keine passive Ablage ist, sondern einen aktivierenden Effekt auf den Nutzer hat. Er bietet etwas an.

Das obige Zitat liefert die Überleitung zum nächsten Punkt: Für eine tiefe Verarbeitung von Büchern reicht das bloße Lesen und Markieren nicht aus.

Bücher und Marginalien

Cal Newport beschreibt mit seinem Markierungssystem fast genau das, was ich selbst auch mache: Minimale Anmerkungen, um Passagen in einem Buch hervorzuheben. Ich selbst mache nur Punkte an den Seitenrand (ich glaube, ich habe mir das von Christian abgeguckt), selten unterstreiche ich zusätzlich ein Wort. Meine weitergehenden Anmerkungen sind, schließlich habe ich einen Zettelkasten, allenfalls kurze Verarbeitungsanweisungen. Am Rande eines Buchs von Nietzsche könnte beispielsweise stehen “vgl. Anhaften/Buddhismus” als Aufforderung, den markierten Gedanken in Verbindung mit dem buddhistischen Konzept des Anhaftens zu bringen.

Ich bin also hundertprozentig Newports Meinung, dass man sich beim Lesen auf das Lesen selbst konzentrieren sollte. Ich mache auch fast nie Notizen während der Lektüre. Nur selten schreibe ich mal eine Spur in Form einer Frage auf die Karteikarte, die ich als Lesezeichen verwende. Ich will keinesfalls den Lesefluss unterbrechen.

Aber nur ein paar Markierungen zu machen reicht nicht aus, um sich die Ideen des Buchs wirklich zu eigen zu machen. Newport scheint sich darauf zu verlassen, dass sein Gehirn dies für ihn im Hintergrund ganz automatisch erledigt. Ich tue das nicht. Ich teile die Meinung von Fiona McPherson in Effektive Note Taking: Damit man etwas wirklich versteht und verinnerlicht, muss man sich die Inhalte aktiv erarbeiten.

Dieses Erarbeiten mache ich in meinem Zettelkasten, meiner integrierten Denkumgebung.

Newport versucht die Notwendigkeit, im Buch nachzugucken, wenn man sich an eine Idee aus dem Buch erinnert, positiv zu deuten: Man hat so eine Art eingebaute Spaced Repetition Technik verwendet.

Ich brauche das beispielsweise nicht zu machen. Es ist äußerst selten, dass ich ein einmal verarbeitetes Buch nochmal in die Hand nehmen muss, um nachzuschauen, wie genau der Gedanke ist, an den ich mich versuche zu erinnern. Ich kenne ihn, weil ich ihn mir schon ausgiebig erarbeitet habe. Ich habe ihn direkt parat. In den seltenen Fällen, in denen das nicht der Fall ist, schaue ich in meinem Zettelkasten nach, was erheblich schneller ist, als im Buch selbst nachzuschlagen. Da liegt Newport falsch, wenn er behauptet, dass im Buch nachzugucken nur unwesentlich langsamer und umständlicher ist, als im eigenen Notizsystem. Um Newport aber ein klein wenig in Schutz zu nehmen: Er sagt selbst, dass er sich bewusst davon fern hält, sich mit Systemen auseinanderzusetzen, weil er sich in Gefahr sieht, zu tief in den Kaninchenbau zu fallen. Ich gehe davon aus, dass dies auch für die Zettelkastenmethode gilt.

Die tiefe Verarbeitung im Zettelkasten muss natürlich selektiv geschehen. Man kann sehr viel schneller lesen, als man Bücher verarbeiten kann. Also verarbeite ich Bücher rein nach Priorität, wie sie mir meine vorliegenden Projekte vorgeben. Aktuell verarbeite ich nur Bücher, die ich für mein Gewohnheitsbuch in Betracht ziehe. In meinem Regal neben meinem Schreibtisch sind drei Etagen voll mit unverarbeiteten Büchern. Die sind auf die gleiche Weise verarbeitet, wie Cal Newport es macht: durch Lesen und Markieren, also oberflächlich.

Der Vorteil der Verarbeitung im Zettelkasten ist, dass ich das mache, was ich ohnehin machen muss, um ein Buch zu schreiben. Aber als Nebenprodukt entsteht eine integrierte Denkumgebung, die mir beim Denken hilft. Sie macht Angebote, diese oder jene Verbindung zu prüfen. Also genau das, nur besser, was Newport als positiven Effekt seines Systems bewirbt.

Doch das ist nicht alles: Aus jedem Buch mache ich ein quasi ein Mini-Unterprojekt. Aktuell verarbeite ich beispielsweise das Buch The Willpower Instinct von McGonigal. Das Hauptthema ist “Selbstkontrolle”. Doch das Thema ist nicht nur relevant für mein Gewohnheitsbuch. Die daraus entstehenden Zettel sind auch relevant für meine Arbeit über Ernährung, Training und Selbstentwicklung.

Dadurch, dass ich das Buch so gründlich verarbeite, verzögert sich wahrscheinlich die Fertigstellung des Gewohnheitsbuchs. Schließlich verarbeite ich Material, was vielleicht nicht Substanz für das Buch werden wird. Doch dabei stehenzubleiben, würde ein beschränktes Denken bedeuten. Alleine an Schnelligkeit gewinnen Schreibprojekte im Bereich Ernährung, Training und Selbstentwicklung. Das gilt für alles: Bücher, Blogposts und Videos.

Das heißt: Solange man nicht völlig abwegiges Material verarbeitet, kommt einem die gemachte Arbeit für spätere Projekte zugute.

Weil ich mich auf meinen Zettelkasten verlassen kann, dass die gemachte Arbeit mit den für spätere Projekte relevanten Kontexten verbunden ist, kann ich mich voll und ganz auf die Verarbeitung der Quelle selbst konzentrieren. Ich muss mich nicht laufend beim Verarbeiten unterbrechen, weil ich mich dabei etwas von meinem direkten Weg auf mein Primärziel hin fortbewege. Dadurch gewinne ich zwei Vorteile:

  1. Qualität. Mein mentale Zustand ist voll und ganz auf die Verarbeitung von Wissen selbst ausgerichtet. Ich kann meine volle Aufmerksamkeit auf die Quelle richten, was die Qualität meines Denkens selbst verbessert.
  2. Quantität. Weil ich mich weniger mit andauernder Kurskorrektur beschäftigen muss, schaffe ich es mehr wissensbasierte Wertschöpfung pro Zeit zu betreiben.

Dies werde ich in den kommenden Jahren nach Außen tragen, indem ich nun der Veröffentlichung meiner Arbeit eine höhere Priorität einräume. Das Gewohnheitsbuch wird die erste Demonstration der Macht des Zettelkastens. Nebenbei schaffe ich weitere kleinere Werke, die dann in anderen Formaten (Blogposts, Mitgliederbereich, Videos) veröffentlicht werden.

Abschließende Zusammenfassung

Cal Newports Skepsis ist absolut gerechtfertigt. Jeder, der ein gut funktionierendes System hat, sollte einigen Widerstand gegen einen kompletten Wechsel aufbringen.

Doch Newports Skepsis basiert (zusammen mit anderen Besprechungen des Themas von ihm) auf Fehlannahmen gegenüber der Zettelkastenmethode. Wie ich oben erläutert habe, sind die Ziele und Bedingungen an der Arbeit der Zettelkastenmethode nahezu identisch mit denen, die Cal Newport an seinem System hat. Ebenso die Umsetzung: Cal Newport betont, dass sein System möglichst einfach sein soll, damit möglichst wenig Reibungsverluste entstehen, die ihn bei seiner eigentlichen Arbeit behindern. Das könnten exakt meine eigenen Worte sein.

Cal, falls du das liest: Ich bin gerne bereit, dir eine kleine Einführung in die Zettelkastenmethode zu geben, samt Demonstration an meinem Zettelkasten natürlich.

Lieber Leser, Cal Newport hat mal gesagt, dass er sich sehr über die zahlreichen Anregungen freut, dem Zettelkasten eine Chance zu geben. Er freut sich bestimmt auch über einen Link zu diesem Artikel. :)

  1. Das ist die Selbstüberschätzung unserer Fähigkeit, Impulsen zu widerstehen, die wir begehen, wenn wir nicht mit dem Impuls unmittelbar konfrontiert sind. Siehe dazu: Loran F Nordgren, Frenk van Harreveld, and Joop van der Pligt (2009): The restraint bias: how the illusion of self-restraint promotes impulsive behavior, Psychol Sci 12, 2009, Vol. 20, S. 1523-8. Pubmed 

  2. Niklas Luhmann (1993): Kommunikation mit Zettelkästen, in: Universität als Milieu, Bielefeld: Haux. (Englischer Text online: https://zettelkasten.de/communications-with-zettelkastens/


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